Menschen beanspruchen sichtbare und unsichtbare Territorien für sich. Wer ihre Grenzen verletzt, wird als unangenehm oder auch als bedrohlich empfunden. Diese – oft unbeabsichtigten – Territorialverletzungen führen auch in der Projektarbeit immer wieder zu schwerwiegenden Konflikten oder störenden Reibereien. Eine gewisse Sensibilität für die territorialen Ansprüche unserer Mitmenschen ist hier von Vorteil.
Ich hatte als Kind eine Katze namens Mucki. Sie war nicht sonderlich groß, aber ziemlich schlau. Eines Tages ging ein Mann mit einem großen, nicht angeleinten Jagdhund an unserem Grundstück vorbei. Das Einfahrtstor war offen, und der neugierige Hund nutzte die Gelegenheit zu einem Abstecher auf unser Grundstück. Dort saß, vom Hund noch unbemerkt, die Katze, die den Hund bereits mit gesträubtem Fell fixierte. Ich rechnete damit, dass der Hund, sobald er die Katze bemerkte, tun würde, was Hunde nun einmal gerne mit Katzen tun, und dass die Katze in weiser Voraussicht ihr Wohl in der Flucht auf einen Baum suchen würde. Doch weit gefehlt. Die Katze ging wie eine Furie auf den verblüfften Hund los und verpasste ihm ein paar Krallenhiebe. Der Hund floh von unserem Grundstück – und ich hatte eine tolle Lektion zum Thema Territorialverletzung bekommen: Sie kann zu unerwarteten und heftigen Reaktionen führen, und nicht immer geht der Stärkere als Sieger hervor.
Ok, nette Geschichte, doch was hat sie mit Projekten zu tun? Ich werde nun nicht Projektleiter mit Katzen und ihre Chefs mit Hunden vergleichen oder umgekehrt, weil ich nicht weiß, welche unsichtbaren Grenzen ich damit überschreite und wer mir dann Hiebe versetzt. Jedenfalls haben Projekte und Katzenterritorien eins gemeinsam: Die Verletzung der Grenzen hat Konsequenzen. Leider sind die territorialen Grenzen nicht so klar durch Zäune, Hecken oder Einfahrtstore erkennbar.
Der Klassiker einer Projektterritorial-Verletzung ist das Hineinregieren des Chefs in das Projekt am Projektleiter vorbei. Das sieht dann etwa so aus: Der Projektkunde kennt den Geschäftsführer des Unternehmens, das das Projekt durchführt. Er hat einen Änderungswunsch oder eine Beschwerde und nutzt seine Beziehung, um Einfluss zu nehmen und Druck auszuüben. Der Geschäftsführer verspricht, sich persönlich der Sache anzunehmen. Der Kunde fühlt sich gebauchpinselt. So weit, so gut.
Doch jetzt kommt die Stelle, wo aus dem Bauchpinseln nach außen eine Bauchlandung im Inneren werden kann. Denn der Geschäftsführer marschiert mit breiter Brust beim Projektteam ein und gibt an die Projektmitarbeiter ohne Rücksprache mit dem zuständigen Projektleiter Anweisungen, was zu tun ist. Das kann er, denn er ist Geschäftsführer. Das ist seine Firma, und das sind seine Mitarbeiter. Ob es ratsam ist, seine Machtposition in dieser Weise zu nutzen, steht auf einem anderen Blatt.
Überlegen wir doch mal, wie diese Handlungsweise bei den Mitarbeitern ankommt – vor allem im Wiederholungsfall. Die Projektmitarbeiter sind verunsichert. Sie stellen sich möglicherweise Fragen wie: Wer ist denn nun der Projektleiter? Wann leitet der Projektleiter das Projekt, und wann ist es Sache des Geschäftsführers? An wen wende ich mich, wenn es brenzlig wird oder es wichtige Entscheidungen zu treffen gibt?
Ganz ähnliche Fragen stellt sich auch die ausgebremste Projektleitung. Die Rollen und Zuständigkeiten sind nicht mehr eindeutig. Der Projektleiter könnte das Eingreifen des Chefs außerdem so interpretieren: Er traut mir nicht, oder er traut mir nicht zu, die Sache zu regeln. Nicht gerade motivierend. Es besteht beispielsweise die Gefahr, dass der Projektleiter diesen Übergriff in sein Territorium als Verletzung der Loyalität empfindet und mit gleicher Münze zurückzahlt: „Was hat der Chef veranlasst? Der hat ja keine Ahnung!“ Oder der Projektleiter gibt sein Territorium und damit auch die Bereitschaft auf, dafür Verantwortung zu übernehmen. „Wenn er das Projekt selber leiten will, bitte. Dann werde ich mich aus der Verantwortung ziehen, wo immer es geht.“ So etwas nennt man innere Kündigung. Eine weitere Variante wäre es, dem gefühlten Vertrauensentzug durch eine tatsächliche Kündigung zu begegnen.
Liebe Chefs und Projektleiter, solche Situationen können in der Hitze des Projekts und unter Kundendruck immer mal passieren. Damit die oben angedeuteten destruktiven Reaktionsvarianten erst gar nicht in Erwägung gezogen werden, sollten Grenzverletzungen deshalb zeitnah thematisiert werden. Und es sollte sichergestellt werden, dass sie sich nicht wiederholen. Beispielsweise wird geklärt, unter welchen Rahmenbedingungen von höherer Stelle ins Projekt eingewirkt werden darf.
Wichtig: Es sollte sich um sehr triftige Gründe handeln, die für alle Beteiligten plausibel und nachvollziehbar sind. Beispielsweise akute Notfälle, in denen sehr schnell reagiert werden muss und der Projektleiter, aus welchen Gründen auch immer, nicht verfügbar ist. Es sollte klar sein, dass es sich um eine Ausnahme handelt.
Leider kommt es in Unternehmen immer wieder auch zu kleinen Territorialverletzungen, die in der Summe das Fass zum Überlaufen bringen. Dazu gehört die ungefragte Nutzung von Arbeitsmitteln der Kollegen oder Mitarbeiter. Auch wenn uns diese Mittel von der Firma zur Verfügung gestellt werden, gehören sie gefühlt uns, wenn wir uns für sie verantwortlich fühlen (und so soll es ja schließlich sein). Eine weitere Unart ist das rücksichtslose Verfügen über die Zeit anderer, also das Entern eines zeitlichen Territoriums. Wir sollten davon ausgehen, dass die Leute nicht herumsitzen und Däumchen drehen, bis jemand kommt und ihrer nutzlosen Existenz Sinn verleiht. Wer einfach in ein Büro platzt, Menschen bei der Arbeit stört oder sie zwingt, alles stehen und liegen zu lassen, um sich um das eigene akute Anliegen zu kümmern, sollte einen wichtigen Grund haben. Andernfalls stellt dieses Verhalten eine Geringschätzung der Menschen und ihrer Tätigkeit dar. Eine höfliche Frage, ob es gerade passt, ist nicht zu viel verlangt. Besonders unangenehm ist die Verletzung der natürlichen Schutzzonen und der Intimsphäre. Dazu gehören beispielsweise das Setzen auf den Schreibtisch der Kollegin oder des Mitarbeiters, Körperdistanzen unter einer Armlänge, unangemessener Körperkontakt oder verbale Grenzüberschreitungen wie fragwürdige Witze und Anspielungen.
Führungskräfte sollten besonders sensibel auf territoriale Bedürfnisse und Ansprüche achten. Gerade bei ihnen wird diese Form der Wertschätzung als besonders positiv empfunden, weil sie die Macht hätten, auch ohne territoriales Gespür (zumindest eine ganze Weile) klar zu kommen. Achtung und Respekt beruhen ja bekanntermaßen auf Gegenseitigkeit.
Umgekehrt ist es auch wichtig, die eigenen Territorien zu schützen, z.B. indem der Projektleiter die Aussprache mit Führungskräften sucht, die ins Projekt hineinregieren, oder die Führungskraft die Befugnisse der Projektleitung klar definiert und angemessen auf Grenzüberschreitungen reagiert. Ob Sie nun Chef, Projektleiter oder Mitarbeiter sind: Haben Sie den Mut, die territorialen Verhältnisse im wörtlichen und übertragenem Sinne sichtbar zu machen, um einen gemeinsamen Modus vivendi zu finden. In Bayern sagen wir so treffend: S ghörn imma zwoa dazua: Oana, der‘s mocht und oana, der si‘s gfoin lasst.
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Weiterführende Infos
Weiterbildung:
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Denkanstöße:
Kolumne von Peter Siwon rund um die menschliche Seite der Projektarbeit
Peter Siwon:
Systemisches Projektmanagement