50 Euro Schein

Was heißt hier Projektverantwortung?

Häufig hakt es in Projekten, weil nicht klar ist, was Projektverantwortung bedeutet oder wie verbindlich Verantwortung übertragen werden kann. Aus diesem diffusen Verständnis von Verantwortlichkeit entstehen oft Streitereien und unnötiges Hin und Her. Wenn es um Verantwortung geht, ist es hilfreich, ein paar Zusammenhänge im Hinterkopf zu behalten. Um sie verständlich zu machen, nutze ich in meinen Seminaren gerne ein kleines Gedankenexperiment. Mein Einsatz: 50€.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Ich lege 50€ auf den Tisch mit der Bitte „Kann mal bitte jemand auf das Geld aufpassen? Ich muss kurz raus.“ Und schon bin ich raus aus der Tür. Gleich danach flitzt ein böser Bube in den Raum, schnappt sich blitzschnell das Geld und verduftet damit.

Was würde passieren? Denken Sie kurz über die Frage nach, bevor Sie weiterlesen.

Die Praxis zeigt, dass die Beobachter der Missetat zunächst ratlos sind und sich gegenseitig beobachten. Vielleicht übernimmt eine Person nach einer Weile die Initiative und versucht zu klären, was zu tun ist und wer es tut. Möglicherweise nimmt ein beherzter Teilnehmer die Verfolgung auf. In aller Regel kommt es aber zu einer Verzögerung oder zu einer kompletten Blockade einer Reaktion. Die Gründe dafür liegen in der Unverbindlichkeit, der entstandenen Verantwortungsdiffusion und einer gegenseitigen Blockade. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Projektverantwortung

Was passiert mit der Projektverantwortung, wenn Aufgaben delegiert werden? Das erklärt Peter Siwon mit 50€.
(Foto: foto art Elisabeth Wiesner)

Projektverantwortung und Verbindlichkeit

Durch meine unverbindliche Übertragung von Verantwortung auf die Gruppe („Kann mal bitte jemand…“) fühlt sich keiner wirklich verantwortlich. Es ist zum einen nicht klar, an wen ich die Bitte gerichtet habe. Die Teilnehmer fragen sich: Meint der mich oder meinen Kollegen oder uns alle? Zum anderen gab es keinerlei aktive Bestätigung, dass jemand der Bitte auch nachkommen will.

Verbindlichkeit entsteht dadurch, dass beiden Seiten zumindest klar ist, wer was wann zu tun hat, und die Person oder Personen dies auch aktiv bestätigen – im einfachsten Fall durch ein Nicken oder „Okay“. Noch besser wirkt eine aktive Wiederholung der Aufgabenstellung durch die Person(en), die die Aufgabe übernehmen. Je eindeutiger die Bestätigung und je mehr Zeugen dieser Zusage beiwohnen, desto höher ist die gefühlte Verpflichtung, der Verantwortung bzw. der Projektverantwortung gerecht zu werden.

Der Effekt der Verbindlichkeit wird noch verstärkt, wenn die Übernahme einer Aufgabe als eigene Entscheidung gesehen wird. Die gefühlte Verantwortung bzw. Projektverantwortung für Aufgaben ist größer, wenn diese aus freiem Willen oder aus Überzeugung angenommen werden. Wird eine Person gezwungen, Verantwortung zu übernehmen, liegt für sie die gefühlte Verantwortung eher beim Aufgabengeber. Deshalb sollten wir Aufgaben so übertragen, dass die Entscheidungsfreiheit der ausführenden Person nicht unnötig eingeschränkt wird. Gewährte Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume steigern die Verantwortungsbereitschaft.

Verantwortungsdiffusion und gegenseitige Blockade

Die gefühlte Verantwortung bzw. Projektverantwortung jedes Einzelnen wird umso kleiner, je größer die Gruppe ist, auf die Verantwortung allgemein übertragen wird. Die Verantwortung verteilt sich diffus über die Gruppe. Wenn 100 Leute angesprochen werden, spürt jeder zwar nicht im mathematischen, aber im übertragenen Sinne nur ein Hundertstel der Verantwortung. Darunter leidet natürlich auch die Bereitschaft, aktiv zu werden.

Zudem beobachten sich die Personen einer Gruppe gegenseitig, um herauszufinden, ob eine Reaktion angemessen ist. Mit der dadurch entstehenden Verzögerung verunsichern sich die Personen wiederum gegenseitig. Intuitiv geistern Fragen wie „Ist es nicht wichtig, dass jemand handelt?“, „Ist es zu gefährlich zu handeln?“ oder „Ist es nicht erwünscht, dass jemand handelt?“ durch die Köpfe. Die so entstehende Verzögerung hat schon so manchen Menschen das Leben gekostet, weil die umstehenden potentiellen Helfer sich gegenseitig blockiert und so wertvolle Zeit vergeudet haben.

Die Verantwortungsdiffusion und die gegenseitige Blockade lassen sich durch die eindeutige Ansprache von Personen vermeiden: „Frau A, würden Sie bitte die Aufgabe übernehmen?“ Nach dieser Aufforderung sollten wir sicherstellen, dass die Person ihre Bereitschaft aktiv bestätigt. Wenn das ganze Team Verantwortung bzw. Projektverantwortung übernehmen soll, sollte jeder einzelne bestätigen, dass er die Gesamtverantwortung mitträgt. Keiner kann sich hinter einem Baum verstecken, an den das Schild „Die anderen sind Schuld“ genagelt ist. Allerdings erfordert das auch einen Alle-für-einen- und Einer-für-alle-Teamgeist – und der fällt nicht vom Himmel.

Verantwortung kann nur als Kopie weitergegeben werden

Die einfachste Lösung für mein 50€-Problem ist, mit einer Person eine verbindliche Vereinbarung zu treffen: „Herr Müller, würden Sie bitte die 50€ für mich aufbewahren, bis ich Sie bitte, sie mir zurückzugeben?“ Meist nimmt der Teilnehmer das Geld mit verschmitztem Grinsen. Ich bitte Herrn Müller, meine Bitte zu bestätigen, was er auch gerne tut. Er hat also jetzt die Verantwortung für das Geld. Doch was ist mit mir?

Bin ich die Verantwortung für die 50€ los? Denken Sie bitte kurz über diese Frage nach, bevor Sie weiterlesen.

Stellen Sie sich vor, ich habe geplant, meine Frau mit diesem Geld zum Essen einzuladen. Herr Müller hat das Geld unglücklicherweise verloren und konnte es deshalb nicht zurückgeben. Ich erscheine mittellos zum Date. Meine Frau wird zu Recht auch mich für den Verlust verantwortlich machen, da es meine Entscheidung war, Herrn Müller das Geld anzuvertrauen. Die Verantwortung bleibt also auch immer bei der Person, die die Aufgabe delegiert. Sie kann nur eine Kopie der Verantwortung für die Ausführung der Aufgabe an den Ausführenden übergeben.

Selbst wenn Herrn Müller das Geld gestohlen wird, wird seine und meine Verantwortung nicht mitgestohlen. Sogar der Dieb erhält eine Kopie der Verantwortung. Denn wenn er erwischt wird, wird er zur Verantwortung gezogen. Herr Müller trägt die Verantwortung für die 50€, weil er sich bestehlen ließ. Ich trage die Verantwortung für das Geld, weil ich es Herrn Müller anvertraut habe. Der Dieb trägt die Verantwortung, weil er gegen ein Gesetz verstoßen hat. Herr Müller wäre auch nicht aus der Verantwortung entlassen, wenn er das Geld an Frau Schmidt zur Aufbewahrung weitergegeben hätte und stattdessen sie bestohlen worden wäre. Die einzige Möglichkeit für ihn, die Verantwortung wieder loszuwerden, besteht darin, das Geld (gemeinsam mit der Kopie der Verantwortung) an mich zurückzugeben.

Projektverantwortung

Mit einer Aufgabe geht nur eine Kopie der Projektverantwortung an den Empfänger.
(Bild: Peter Siwon)

Geteilte Verantwortung, gemeinsame Verantwortung

Natürlich kann ich die Verantwortung für die Aufbewahrung der 50€ auch auf fünf Personen verteilen, indem ich beispielsweise jeder 10€ in die Hand drücke. Damit würde jede dieser Personen auch eine Verantwortungskopie für ihre 10€ übernehmen. Die Gesamtverantwortung bleibt weiterhin bei mir.

Nun ein letztes Szenario: Ich übergebe die fünf 10€-Scheine an eine Gruppe, und wir haben klar geregelt, dass die Gruppe die Verantwortung für die 50€ übernimmt. In diesem Fall spielt es keine Rolle, wie die Gruppe die Aufbewahrung im Detail organisiert. Sie ist als Gruppe und damit auch jeder einzelne der Gruppe für den Betrag verantwortlich. Vielleicht merken Sie schon beim Lesen, dass die Sache einen Haken hat, wenn das Team diese gemeinsame Verantwortung nicht leben kann. Dann wird im Verlustfall beispielsweise versucht, einen Schuldigen zu bestimmen und an mich auszuliefern.  Ein verantwortungsbewusstes Team würde gemeinsam einen Weg suchen, das Problem zu lösen. Im einfachsten Fall merke ich gar nichts vom Verlust.

Verantwortung im Projekt

Diese Überlegungen lassen sich sehr gut auf die Verantwortung der Projektleitung übertragen. Sie ist in der Regel gesamtverantwortlich für das Projekt und hat die Aufgabe und Verantwortung, das Projektaufgaben und damit auch die Projektverantwortung sinnvoll aufzuteilen. Sinnvoll bedeutet, dass jede Aufgabe eindeutig und verbindlich einer Person, einer Gruppe von Personen oder einer juristischen Person (Zulieferer) zugewiesen wird, die dieser Aufgabe und der damit verbundenen Projektverantwortung gerecht werden kann. Läuft etwas schief, sind an erster Stelle die Personen in der Pflicht, eine Lösung zu finden, die die Aufgabe übernommen haben. Sie sollten eine faire Chance bekommen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

In jedem Fall bleiben auch alle in der Lösungsverantwortung, die in irgendeiner Form an der Weitergabe der Aufgabe und der damit verbundenen Verantwortung beteiligt waren. Sie unterstützen soweit notwendig und möglich den Lösungsprozess. Sollte das nicht klappen, stellt sich die Frage: Muss die Verantwortung neu verteilt werden, um das Problem zu lösen, und wenn ja, wie?

Sie merken schon, es geht nicht darum, einen Schuldigen zu finden. Es geht darum, Verantwortung so zu (ver-)teilen, dass die gewünschten Ergebnisse erzielt oder die anstehenden Probleme gelöst werden können. Die Suche nach Schuldigen führt in der Regel genau zum Gegenteil von Verantwortungsbereitschaft und Lösungsorientierung. Bevor Sie nach Schuldigen suchen, denken Sie an die 50€ und Ihren Teil der Verantwortung.

Gerne sende ich Ihnen eine kompakte Liste der wichtigsten Methoden zur Förderung von (Mit-)Verantwortung zu.  Senden Sie mir dazu eine E-Mail mit dem Stichwort „Verantwortung“ an
verantwortung@systemisches-projektmanagement.info.

Veröffentlicht von

Peter Siwon

Peter Siwon

Dipl.-Ing. Peter Siwon ist freier Mitarbeiter bei MicroConsult. Er lernte die Projektarbeit im Laufe seiner beruflichen Entwicklung aus vielen Perspektiven kennen: Forschung, Entwicklung, Projektleitung, Vertrieb, Marketing und Geschäftsführung. Seit 2008 gibt er sein Wissen und seine Erfahrungen als Trainer, Coach, Lehrbeauftragter und Autor von Vorträgen, Kolumnen, Fachartikeln und Büchern weiter. Seine Vorträge und Seminare wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Sein Themenspektrum umfasst klassische, agile und systemische Projektmanagement-Ansätze, Kommunikation, Führung, Teamentwicklung und Konfliktlösung im Projektumfeld. Die vielen Fallbeispiele aus der Praxis seiner Kundinnen und Kunden sowie seine aktive Mitwirkung in Projekten liefern ihm immer wieder neue Impulse und Erkenntnisse für seine Tätigkeit. Darüber hinaus erweitert Peter Siwon sein Wissen durch regelmäßige Aus- und Weiterbildung - gerne blickt er dabei über den Tellerrand. Aus der Überzeugung heraus, dass die Projektarbeit maßgeblich durch menschliche Faktoren beeinflusst wird, gilt sein besonderes Interesse der menschlichen Seite des Projekterfolgs. Mehr Informationen zu Peter Siwon und Kundenmeinungen zu seiner Arbeit finden Sie unter www.systemisches-projektmanagement.info.