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Denkanstöße 31 - Projektmanagement zwischen Naivität und Selbstbetrug

Am Anfang eines Projekts steht eine Idee, die zumindest für den Genius, der sie geboren hat, wie ein heller Stern leuchtet. Der so Erleuchtete sieht bereits das fertige Opus vor seinem geistigen Auge - der Triumph erscheint so nah. Ihm geht es wie einem Wanderer, der das Ziel seiner Anstrengungen schon in greifbarer Nähe sieht. In seiner Euphorie verwechselt er die Luftlinie mit der realen Entfernung. Wer darauf baut, dass ihn harte Faktoren wie Zeit und Geld auf den Boden zurückbringen, wird möglicherweise enttäuscht.

Der harte Wettbewerb um Geld, Zeit und andere Ressourcen schärft nicht gerade den Blick für die Realität, zumal es außerdem noch um emotionale Faktoren wie Status, Macht und Anerkennung geht. Der nüchterne und von dem einen oder anderen Zweifel geplagte Grübler hat schlechte Karten gegen den siegesgewissen Strahlemann. „Think positive“ lautet die Devise. Gewinner ist der Strahlemann, der Projektillusionen mit Siegerlächeln und munter pfeifend erstrahlen lässt, auch wenn es nur das geschickt überspielte Pfeifen im Walde ist. Verlierer ist der nüchterne Realist, der erst in die Projektsuppe spuckt und dann versucht, die Löffel zu verteilen. Wer sich nicht weit aus dem Fenster lehnt, hat wenig Chance, seinen Stern vom Himmel zu holen.

Die nächste Chance, die Realität endlich zu erkennen, ist das Projekt selbst. Doch der Strahlemann und sein Strahleteam haben natürlich wenig Lust, ihren Nimbus so mir nichts dir nichts wegen ein paar Rückschlägen und Soll-Ist-Abweichungen zu verlieren. Am besten behält man solche Problemchen erst einmal für sich. Sollte der Fleck auf der weißen Projektweste dennoch sichtbar werden, gilt es Selbstbewusstsein zu zeigen: „Wir haben alles im Griff, den rubbeln wir mit ein paar Überstunden raus“, pfeift das Ego munter aus dem Walde.

Wissenschaftliche Studien zeigen sehr deutlich, dass die Mehrheit der Führungskräfte zu spät gegensteuern, wenn Projekte in die Schieflage geraten. Je höher und öffentlichkeitswirksamer für die Projektgenehmigung gepokert wurde, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit unerkannt bleibt. Warum? Die menschliche Psyche hat eine starke Neigung, die Konsistenz zwischen Versprechungen und erzielten Ergebnissen herzustellen. Wenn diese Konsistenz nicht durch Taten erreichbar ist, so wird die Lücke durch „richtige“ Interpretation und geschickte Darstellung überbrückt.

Das geschieht (anfangs) selten mit Vorsatz, denn viele Anzeichen für Projektkrisen kommen erst gar nicht im Bewusstsein an. Der Grund: Das Gehirn unterdrückt Informationen, die nicht mit dem aktuellen Aufmerksamkeitsfokus „Erfolg“ vereinbar sind. Wer auf Erfolgskurs gepolt ist, ist deshalb für Hiobsbotschaften weitgehend blind und taub. Wir können uns und andere deshalb ziemlich lange belügen, ohne dabei rot zu werden, denn wir wissen nicht, dass wir lügen.

Wie praktisch im Sinne des Egos! Wie fatal im Sinne der Projektarbeit! Auch wenn tatsächlich bewusst geschummelt wird, erscheint dem Flunkerer die Diskrepanz zwischen geschönter Darstellung und nüchterner Realität halb so schlimm, weil ihm sein Selbstbetrug verborgen bleibt. Da die meisten Beteiligten rosa Brillen tragen, fällt das bisschen Schamesröte nicht weiter auf, die dann noch bleibt.

Irgendwann fangen Krisen-Projekte zu stinken an, und da hilft bekanntlich keine rosarote Brille mehr. Doch auch hier findet die Psyche einen Ausweg, um das Selbstbild zu schützen. Misserfolge werden dann den äußeren Umständen zugeschrieben. Und da findet sich bei komplexen Projekten immer etwas: die Zulieferer, die Tools, die Vorgänger, usw. Die genannten Gründe sind meist plausibel und häufig richtig. Allerdings haben Psychologen nachgewiesen, dass die äußeren Umstände zugunsten der selbstverschuldeten Ursachen übertrieben dargestellt werden. Zum Ausgleich werden Erfolge dann über Gebühr den eigenen Fähigkeiten zugeschrieben. Auf diese Weise bleibt ein wichtiger Erfolgsfaktor für den weiteren Projektverlauf und künftige Projekte auf der Strecke: eine realistische Einschätzung von Menschen und Situationen.

Irgendwann findet jedes Projekt sein Ende: Die einen feiern ein oft verzögertes Happy End. Die anderen sterben nach längerem Leiden einen unwürdigen Projekttod und werden schnell verscharrt. Die Happy-End-Projekte dienen der Legendenbildung. Da der reale Verlauf ohnehin schwer nachvollziehbar ist, wird eine plausible Geschichte gestrickt, die vor allem die Illusion nährt, dass die Protagonisten meist alles im Griff hatten oder zumindest heldenhaft dem Projektwahnsinn trotzten.

Als Nachspann vieler Projektgeschichten würde ein Satz wie dieser gut passen: Personen und Handlung beruhen auf einer wahren Begebenheit. Aber mehr auch nicht. Retrospektive Betrachtungen unterliegen ebenfalls einer starken Wahrnehmungsverzerrung, schlicht weil die Realität viel zu kompliziert ist, um nachvollziehbar zu sein. Der Verstand bastelt sich deshalb lieber eine einfache, plausible Erfolgsstory. Die Bücherläden sind voll mit Erfolgsrezepten und Lösungsprinzipien wie „Reich und glücklich in 7 Schritten“. Nicht weil sie zuverlässig funktionieren, sondern weil die Menschen sie verstehen können und die Illusion lieben, alles im Griff haben zu können. Die Faktoren Glück, Zufall und all die unvorhersehbaren Dinge des Lebens finden darin in der Regel nicht die Würdigung, die ihnen gebührt. Die Folge: Überfliegerprojekte führen möglicherweise zu einer Art Projektgrößenwahn. Sie werden zum Maßstab für die nächsten Projekte.

Dazu eine Frage: Wie hoch schätzen Sie den Einfluss unvorhersehbarer Ereignisse (Personalfluktuation, technologische Unwägbarkeiten, Änderungswünsche, Motivation, Wetter, Marktentwicklung, Wettbewerbsdruck, usw.) auf den Projektverlauf ein? 30%, 50%, 70%?

Wie sinnvoll ist es, einzelne Erfolgsstories zum Maßstab zu erheben, wenn 30% oder mehr Glückssache sind? Gleichzeitig müssten über die meisten anderen Projekte eher Dramen oder Komödien geschrieben werden. Aber das trauen sich die meisten nicht. Gescheiterte Projekte werden lieber gemeinsam mit all den schmerzhaften aber wertvollen Erkenntnissen in irgendwelchen Projektmassengräbern verscharrt. Psychologen nennen das Verdrängung.

Bekennen Sie sich auch zu den Erfolgsfaktoren Glück und Zufall, wenn es gut läuft. Beerdigen Sie Ihre gescheiterten Projekte in Würde, indem Sie auch den unangenehmen Erfahrungen Aufmerksamkeit schenken. Seien Sie sich bewusst, dass Sie die ganze Projektwahrheit nie kennen werden. Sie können der Wahrheit allerdings näher kommen, wenn Sie die Mechanismen verstehen, die Ihre Wahrnehmung verzerren.

Wenn Sie noch mehr über dieses Thema wissen möchten, schicke ich Ihnen gerne weitere Tipps zu. Senden Sie dazu eine Nachricht mit dem Stichwort "Rosarote Brille" an denkanstoss@microconsult.de.

Peter Siwon

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