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Denkanstöße 20 - Wenn alle Stricke reißen

Wenn alle Stricke reißen, greifen wir zu den ältesten Tricks menschlicher Hoffnung: Wir vertrauen auf einen Talisman, rufen höhere Mächte an oder vollführen andere rituelle Handlungen. Es gibt eine amüsante Anekdote über den berühmten Physiker Niels Bohr. Darin antwortete er auf die Frage eines Kollegen, warum er ein Hufeisen über die Tür genagelt habe: "Ich glaube zwar nicht daran, aber es hilft!" Damit hat der schlaue Physiker wie bei seinem Atommodell den Nagel auf den Kopf getroffen.

Der Skeptiker wendet an dieser Stelle forsch ein, dass viele Rituale weiter bestehen, obwohl der Anlass für ihre Entstehung nicht mehr existiert. Ihr Wert liegt möglicherweise nur noch in ihrem Bezug zu einem großartigen Erfolgserlebnis oder dem Charisma ihrer Erfinder. Im täglichen Leben hat diese Nostalgie ihren Charme. In der Projektarbeit ist sie Zeit- und Geldverschwendung.

Doch sollte man hier mit vorschnellen Urteilen vorsichtig sein. Abgesehen von übersinnlichen Wirkungen, die sich meiner Wahrnehmung bisher entzogen haben, erzielen Rituale auch einen nachweisbaren Effekt. Rituale haben den Vorteil, dass sie uns das Denken ersparen, das unter starkem Stress ohnehin blockiert ist. Sie bieten so dem inneren Handlungsdrang, den wir unter Stress verspüren, ein vertrautes Ventil. Sie suggerieren die Sicherheit, dass sie das Risiko verkleinern, falsch zu handeln oder der falschen Handlung bezichtigt zu werden. Sie wirken damit Stresssymptomen entgegen und erhöhen die Chance, dass wir wieder einen sinnvollen Handlungsfaden aufgreifen. So haben auch wirkungslose Maßnahmen im Sinne des Projektziels eine Wirkung.

Die Mediziner nennen das Placebo-Effekt. Viele Experimente haben gezeigt, dass dieser Effekt keine Einbildung ist, sondern tatsächlich auf unsere körperliche und psychische Verfassung positiven Einfluss nimmt.

Jeder Mannschaftssportler weiß, dass rituelle Handlungen etwas bringen, wie zum Beispiel der gemeinsame Schlachtruf, während die Spieler eng umschlungen einen Kreis bilden. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das dadurch rituell ausgedrückt wird, beeinflusst auch unseren Hormonhaushalt positiv. Es erzeugt Vertrauen (das hat auch etwas mit Hormonen zu tun) und wirkt Stresssymptomen entgegen.

Glauben Sie, dass Profisportler, die über einen ganzen Stab von hochbezahlten Trainern und Psychologen verfügen, diese Rituale machen würden, wenn sie nichts bringen? Ich gebe zu, dass diese Art von Ritual in Projekten eher selten auftritt, doch sollten wir auch hier den Nutzen von Ritualen, die Zusammengehörigkeit symbolisieren, nicht unterschätzen. Menschen brauchen gemeinsame Rituale, weil sie den Zusammenhalt des Teams und die Psyche jedes Einzelnen stärken.

Rituale haben eine große Bedeutung für uns, auch wenn wir viele unserer Verhaltensweisen nicht so bezeichnen würden. Selbst Handlungen, Methoden, Prozesse oder Umgangsformen in Projekten können zu Ritualen werden. Was spricht dagegen, einen bewährten Prozess zum "Erfolgsprozess" oder "Glücksprozess" zu erheben?

Dieses Erheben von Abläufen in den Stand des Rituals hat durchaus Vorteile, weil sie dann eine größere Autorität ausstrahlen. Daraus erwächst jedoch gleichzeitig der Nachteil, dass sie sich der Anwendung von purem Pragmatismus entgegenstellen. Sie geben uns Halt, aber sie halten uns möglicherweise davon ab, neue Wege zu gehen. Deshalb ist es sinnvoll, den Ursprung von Ritualen immer wieder zu hinterfragen. "Das war schon immer so", "Das machen wir aus Erfahrung (wissen aber nicht, um welche es sich handelt)" oder "Der Chef liebt es so". Wenn die Antworten so oder ähnlich lauten, dann wird es höchste Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Das ideale Ritual gibt Halt und Hilfe, ohne zu fesseln.

Bei der kritischen Betrachtung des Nutzens von Ritualen sollten wir allerdings nicht zu einseitig auf Faktoren wie Zeit und Geld schielen. Aussagen wie "Damit fühle ich mich sicherer" oder "Das tut uns einfach gut" deuten auf positive Placebo-Effekte hin. Ihre Wirkung im Sinne von Stressminderung, Zusammengehörigkeitsgefühl, Zuversicht, Optimismus etc. darf keinesfalls unterschätzt werden.

So ist es sehr fraglich, wenn beispielsweise Rituale gegenseitiger Wertschätzung, wie die freundliche Begrüßungen am Morgen oder das gemeinsame Feiern von Erfolgen, dem Diktat der Effektivität geopfert werden.

Ich freue mich auf Ihre Denkanstöße unter denkanstoss@microconsult.de

Peter Siwon

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