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Denkanstöße 14 - Verschätzt! Wenn Anker ein Projekt zum Kentern bringen.

Die Sache wird noch verstärkt, wenn das Innovationstempo so hoch ist, dass alte Erfahrungen schwer auf neue Projekte übertragbar sind oder Wissensträger nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Randbedingungen gehören z.B. bei Projekten der Software- und Chipentwicklung zum Alltag.

Die Folge ist, dass mangels verwertbarer Informationen und hohem Druck passiert, was passieren muss: Der Verstand wird durch den Bauch ersetzt. Das ist jetzt keine Anspielung auf übergewichtige Projektmitarbeiter. Ich spreche von den unsichtbaren Automatismen unseres Denkens. Wir werden uns nun einer besonders hinterhältigen Form widmen: dem Ankern.

Unser Gedächtnis benutzt Anker, um Halt zu finden. Doch diese bergen auch Gefahren.

Szenenausschnitte aus der Aufwandsabschätzung eines Projekts: ... Eberhardt behauptet, dass er schon mal in einem ähnlichen Projekt mitgearbeitet hat. "Das hat so ungefähr 3-4 Personenjahre verschlungen". Aha, das ist ja schon mal ein Anfang. Meist macht sich keiner die Mühe, die genaueren Details und Umstände zu erfragen. Großes Softwareprojekt, ähnliche Plattform, gleiche Programmiersprache, passt. Nach einigen weiteren Überlegungen kommt das Team zu der Meinung, dass das eigene Projekt etwa doppelt so viele Module hat...

Schließlich macht man noch eine Worst-Case- und Best-Case-Betrachtung. Als Best-Case gehen alle davon aus, dass sie es aufgrund des besseren Teams (hört, hört!) auch in 3 Personenjahren hinkriegen könnten. Im schlimmsten Fall ging das Team davon aus, dass es 6 Personenjahre dauern könnte. Da der Messetermin, an dem das Produkt vorgestellt werden soll, nur 4 Personenjahre zulässt, gibt das Management vor, dass es nur 4 Personenjahre dauern darf. Der Projektleiter stimmt zu. Sein kleiner Sohn feiert gerade den 4.Geburtstag. Zufall oder gutes Omen?

So oder so ähnlich haben Sie es wahrscheinlich auch schon erlebt. Solchen Abschätzungen haftet immer etwas Mystisches an, da aus vielen diffusen Annahmen eine konkrete Zahl entsteht. Sie erinnern mich an den Kultroman "Per Anhalter durch die Galaxis", in dem ein Computer auf die Frage nach dem Sinn des Lebens die schlichte Antwort "42" gibt.

Wie immer die Sache auch läuft, es beginnt mit der Suche nach Anhaltspunkten. Da kommt unseren grauen Zellen jeder Hinweis gelegen. In unserem Fall setzt die Aussage von Eberhardt uns einen ersten Anker, der Einfluss auf die Schätzung nimmt, obwohl diese nur vage mit der Komplexität und dem Aufwand des Projektes verknüpft ist. Eine weitere Orientierungshilfe für die Entscheidung ist die goldene Mitte. In der Regel entscheiden sich die Menschen nicht für den Worst-Case oder Best-Case, auch wenn diese Eckpunkte meist auch nur grobe Schätzungen sind. Die Mehrheit tendiert zur Mitte. Das ist auch der Grund dafür, dass sich politische Parteien, die eine Mehrheit anstreben, so gerne als Parteien der Mitte titulieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Team mit 4 oder 5 Personenjahren arrangiert, ist also sehr hoch.

Sie sehen, dass unsere Entscheidungen sich oft an sehr simplen Anhaltspunkten orientieren. Immerhin ist das besser als Würfeln. Doch nicht selten ist Würfeln tatsächlich eine treffende Bezeichnung. Denn bei den Ankern kann es sich auch um Assoziationen handeln, die in einem möglicherweise sehr exotischen Zusammenhang zur aktuellen Situation stehen, oder um willkürliche Ereignisse, die aus irgendeinem Grund in unserem Kopf herumspuken. Es genügt bereits die zeitliche Nähe eines Ereignisses oder einer Wahrnehmung, um Einfluss zu nehmen.

Je dichter der Projektnebel, desto größer ist diese Gefahr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der 4. Geburtstag seines Sohnes dem Projektleiter "geholfen" hat, dieser Zahl eine größere Bedeutung zuzumessen.

Es klingt absurd, aber viele Studien haben bewiesen, wie stark der Einfluss willkürlicher zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhänge sein kann. So sollten beispielsweise Studenten einer Universität in Boston auf einem Fragebogen den Wert verschiedener Produkte schätzen. Bevor sie mit der Schätzung begannen, wurden sie aufgefordert, die letzten zwei Zahlen ihrer Sozialversicherungsnummer oben auf dem Bogen einzutragen. Die Auswertung zeigte einen signifikanten Zusammenhang zwischen dieser Zahl und der abgegebenen Schätzung. Der einzige Zusammenhang zwischen der Sozialversicherungsnummer und der Schätzung bestand darin, dass es sich in beiden Fällen um Zahlen handelte, die zeitnah das Denken beschäftigten.

Weil diese Anker so gut funktionieren, ohne uns das Gefühl der Manipulation zu geben, werden sie gerne von gewieften Verkäufern und professionellen Zauberkünstlern eingesetzt. Sogar Bettler benutzen den Trick, indem sie Geldstücke als Orientierungshilfe in ihren Hut legen.

Sie sehen, dass diese Anker sehr mächtig sind und durchaus geeignet, Ihre Projekte zum Kentern bringen.

Anker lichten für den Projekterfolg

Wie gerade beschrieben, nehmen auch Ereignisse oder Informationen, die in keinerlei logischem Bezug zur gestellten Aufgabe stehen, Einfluss auf Abschätzungen, Prognosen und Entscheidungen. Wie haben wir nun eine Chance, den Einfluss irreführender Anker zu erkennen und zu vermeiden? Hier ein paar Hinweise:

Erkenntnis:

Wie so oft ist die Erkenntnis, dass solche Anker tatsächlich wirken, bereits ein großer Fortschritt. Sie können nun Ihre Kollegen, Kunden, Verwandte und Bekannte nach Herzenslust ankern. Damit hat sich das Lesen der Kolumne schon mal gelohnt.

Hinterfragen:

Da Sie nun wissen, wie stark der Einfluss dieser Anker sein kann, stellen Sie sich vielleicht künftig öfter die Frage, welche Einflussfaktoren in Ihrem Umfeld wirksam sind, die als Anker dienen könnten. Was haben Sie vorher erlebt? Was bewegt Sie derzeit besonders? Welche Assoziationen könnten durch die Umgebung, den Gesprächspartner, etc. geweckt worden sein? Warum ist etwas heute so wichtig, was gestern noch unwichtig war und umgekehrt?

Wechseln des Ankerplatzes:

Jedes Umfeld und jede Situation wirft andere Anker aus. Deshalb ist es zweckmäßig, eine wichtige Überlegung oder Entscheidung unter unterschiedlichen Randbedingungen zu wiederholen. Wählen Sie dazu eine andere Umgebung, eine andere Tageszeit oder andere Darstellungsformen. Nutzen Sie alternative Informationsquellen oder versuchen Sie, sich in eine andere Rolle hinein zu fühlen.

Andere Menschen, andere Anker:

Beziehen Sie Menschen ein, die einen anderen fachlichen und emotionalen Bezug zu Ihrem Projekt haben. Sie helfen Ihnen dabei, die eigenen gedanklichen Fixpunkte in Frage zu stellen. Dazu benötigen Sie lediglich die Bereitschaft anzuerkennen, dass Sie, wie alle anderen Menschen, immer irgendwo unsichtbar verankert sind.

Also liebe Leser, Anker lichten und volle Fahrt in den Projekterfolg!

Ich freue mich auf Ihre Denkanstöße unter denkanstoss@microconsult.de.

Peter Siwon

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