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Szenarien für Industrie 4.0

Autorin: Dr. Irmhild Rogalla, Institut für praktische Interdisziplinarität

Beitrag - Embedded Software Engineering Kongress 2016

 

Szenarien spielen in der Arbeit der Plattform Industrie 4.0 der Bundesregierung eine große Rolle. Sie werden zur Sammlung von Anforderungen an das "RAMI – Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0", als Anwendungsbeispiele wie als Visionen genutzt.

Originär beschreiben Szenarien aus technischer Sicht, was mit cyber-physischen Pro­duktionssystemen erreicht werden könnte: Welche Produkte lassen sich auf welche Weise mit welchen Mitteln besser, schneller, effizienter produzieren? Wie können Prozesse und Prozessketten stärker automatisiert, gesteuert und überwacht werden? Welche gänzlich neuen Möglichkeiten für Produkte und Dienstleistungen, Produk­tion und Administration, aber auch für Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsnetze sind durch die Nutzung des Internet of Things (IoT) denkbar?

Die Plattform Industrie 4.0

"Industrie 4.0" gehört zu den Zukunftsprojekten der Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie 2020. Im Oktober 2012 legte der Arbeitskreis der Forschungs­union Wirtschaft – Wissenschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) hierzu seinen Bericht "Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0" vor.  Auf der Hannover Messe 2013 gaben die Verbände BITKOM, VDMA und ZVEI ihre Zusammenarbeit in Form der "Plattform Industrie 4.0" bekannt. Seit April 2015 leiten die Bundesministerien für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie das  BMBF gemeinsam die Plattform. Weitere Akteure aus Unter­nehmen, Verbänden, Gewerkschaften und Wissenschaft kamen seitdem hinzu.

Laut Selbstbeschreibung ist die Initiierung geeigneter Standards unter dem Dach des Referenzarchitekturmodells Industrie 4.0 ein wesentliches Ziel der Plattform Indus­trie 4.0. Diese Standards sollen die Grundlage bilden, damit auch in und nach der vierten industriellen Revolution Deutschland seine internationale Spitzenposition in der produzierenden Industrie sichern und ausbauen kann. Zusätzlich erstellen die Akteure der Plattform Handlungsempfehlungen, eine Forschungsagenda sowie aus­sagekräftige Anwendungsbeispiele und Szenarien, die die Effekte vernetzter Produk­tions- und Wertschöpfungsnetzwerke wie neuer Geschäftsmodelle demonstrieren sollen.

Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI)

Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (vgl. BIT­KOM, VDMA, ZVEI  2015, S. 40ff; VDI/ VDE 2015) vereint unterschiedliche Aspekte in einem Modell: die ver­tikale Integration von Geschäftsprozessen bis hin zu "smarten" Werkstücke und Produkten, das durchgängige Engineering vom Entwurf bis zum Recycling und die horizontale Integration von Unternehmen in weltweiten Wertschöpfungsnetzwerken. Dafür fasst das RAMI verschiedene Normen und Standards aus den technischen Do­mänen Informations- und Kommunikationstechnik, Automatisierungstechnik sowie Maschinen- und Anlagenbau zusammen. Darauf aufbauend sollen noch fehlende Normen und Standards identifiziert und entwickelt werden. Als Spezialisierung des "Internets of Things and Services" (VDI/VDE 2015, S. 6) und als Systemarchitektur­modell ist das RAMI sehr kompakt und hochabstrakt.

Dargestellt wird das RAMI als dreidimensionales Modell (vgl. Abb., siehe PDF) sowie VDI/VDE 2015, S. 9f). Es orientiert sich am Smart Grid Architecture Model (SGAM), das die europäische Smart Grid Coordination Group für "intelligente Stromnetze" definiert hat. Für die Erfordernisse von Industrie 4.0 wurde dieses Modell angepasst und er­weitert.

Auf der senkrechten Achse repräsentieren Schichten (Layer) die unterschiedlichen Sichtweisen auf Produktion und Produktionsprozesse, unter anderem auf Hardware (Assets), Datenabbild, Kommunikationsverhalten, funktionale Beschreibung oder auch Geschäftsprozesse. Auf der waagrechten Achse im Vordergrund sind Produkt­lebenszyklus und Wertschöpfungskette angeordnet. Dies ermöglicht unter anderem die durchgängige Erfassung von Daten und Abhängigkeiten über den gesamten Lebenszyklus - von ersten Konstruktionszeichnungen bis zum Recycling.

Die dritte Achse (waagerecht von vorne nach hinten) dient der Verortung von Funk­tionalitäten und Verantwortlichkeiten innerhalb der Fabriken und Anlagen. Dies geschieht mit Hilfe einer funktionalen Hierarchie, ausdrücklich nicht mittels Geräte­klassen oder Hierarchieebenen der klassischen Automatisierungspyramide. Genutzt werden für die Einordnung innerhalb einer Fabrik die Normen IEC 62264 und IEC 61512, ergänzt durch zusätzliche Ebenen, wie das "Field Device" und das "Product" (unterhalb des "Control Device") sowie die Ebene "Connected World" (über dem "Enterprise Level").

Aktuell (2016) konzentrieren sich die Arbeiten am RAMI auf Industrie 4.0-Kompo­nenten bzw. Technical Assets, die Beschreibung und Struktur der Industrie 4.0-Ver­waltungsschale sowie die Grammatik und Semantik in einer Industrie 4.0-Ontologie. Damit wird vor allem die vertikale Integration, teilweise auch die Durchgängigkeit des Engineerings unterstützt. Bisher sind in den Arbeiten am RAMI die horizontale Integration und die Rolle des Menschen "als Dirigent im Wertschöpfungsnetzwerk" explizit nicht berücksichtigte Aspekte.

Die Szenarien

Da einerseits sehr viele Erwartungen an das RAMI geknüpft werden, andererseits nur wenige Fachleute das RAMI, seine Funktionen und Aufgaben, wie seinen Entwick­lungsstand und seine Grenzen verstehen, wurden – ebenfalls von Akteuren der Platt­form Industrie 4.0 – Szenarien entwickelt. Ursprünglich dienten sie als allgemeine Beschreibung unternehmerischer Herausforderungen der Zukunft und zur Demon­stration der Effekte vernetzter Produktions- und Wertschöpfungsnetzwerke wie neuer Geschäftsmodelle. Im Laufe der Zeit kamen weitere Anforderungen hinzu.

Insgesamt gibt es (Stand Hannover Messe 2016) neun Szenarien: "Auftragsgesteuer­te Produktion", "Wandlungsfähige Fabrik", "Selbstorganisierende adaptive Logistik", "Value Based Services", "Transparenz und Wandlungsfähigkeit ausgelieferter Produkte", "Anwenderunterstützung in der Produktion", "Smarte Produktentwick­lung für die smarte Produktion", "Innovative Produktentwicklung" und "Kreislauf­wirtschaft" (vgl. BMWi/PI40 2016). Neben der namensgebenden Herausforderung beschreiben die Szenarien jeweils auch die Auswirkungen des Szenarios auf die Wertschöpfungskette und den Mehrwert für die beteiligten Unternehmen. 

Beispiel-Szenario: Auftragsgesteuerte Produktion

Das Szenario (PDF) "Auftagsgesteuerte Produktion" (vgl. BMWi/PI40 2016, S. 8f) kreist um eine hochflexible Fertigungskonfiguration, deren Leit- und Steuerungssysteme werks- und unternehmensübergreifend vernetzt sind. So soll eine schnelle Anpassung an die Anforderungen des Marktes und der Kunden möglich sein, sowohl im Hin­blick auf die Größe als auch die Art des jeweiligen Auftrages. Als "individuelle Pro­dukte zu Massenproduktionspreisen" oder schlicht "Losgröße 1" wird diese Anfor­derung auch gekennzeichnet. Ziel ist es, Produktions- und Fertigungsprozesse – auch über mehrere Unternehmen hinweg – optimieren zu können, um Zeit und Kosten zu sparen. Voraussetzung für eine solche "Auftragsgesteuerte Produktion" wäre die Standardisierung jedes einzelnen Prozessschrittes und die Selbstbeschreibung der Fähigkeiten der Produktionsmittel. Nur so wäre eine automatisierte Auftragsplanung, -vergabe und -steuerung sowie eine selbstständige Einbindung externer Fabriken in den Produktionsablauf möglich.

Prognostiziert wird in dem Szenario, dass sich so die heutigen auf individuell ausge­handelten Verträgen zwischen OEMs und Zulieferern beruhenden Wertschöpfungs­ketten in stark fragmentierte, sich dynamisch ändernde Wertschöpfungsnetzwerke verwandeln. Der Mehrwert für die Akteure ergäbe sich für produzierende Unterneh­men aus den erweiterten Möglichkeiten der Kapazitätsauslastung eigener Maschinen und Anlagen einerseits sowie der schnellen Einbindung weltweit verteilter externer Fertigungskapazitäten andererseits.

Die Szenarien als Beispiele

Ursprüngliche Aufgabe der Szenarien ist das Aufzeigen von Lösungen für unterneh­merische Herausforderungen durch den in der Zukunft liegenden Einsatz cyber-phy­sischer Systeme. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass dem RAMI und den Arbeiten der Plattform Industrie 4.0 ein ambitioniertes technisches Verständnis von Industrie 4.0 zugrundeliegt, welches auf der technischen Integration cyber-physisch­er Systeme in Produktion und Logistik sowie der Einbindung industrieller Prozesse in das Internet der Dinge und Dienste (Promotorengruppe 2013, S. 18) beruht. Es geht also nicht um eine wie auch immer geartete Digitalisierung oder Vernetzung der Produktion sondern – so der selbst formulierte Anspruch – "um die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpf­ung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten" (Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0, vgl. Wissenschaftlicher Beirat 2014, S.1).

Die Anwendungsszenarien sollen also die Verbindung zwischen dem Einsatz (noch zu entwickelnder) Technik und unternehmerischen Zielen herstellen. Die Anwen­dungsszenarien sollten dabei nicht mit den aktuellen Anwendungsbeispielen (vgl. Plattform Industrie 4.0 → Anwendungsbeispiele) der Plattform verwechselt werden.  Bei ihnen handelt es sich um erste, realisierte Teillösungen, die in Richtung "Indus­trie 4.0" gehen. Kunden, die ihr Produkt mit Hilfe eines Webtools selbst konfigurie­ren oder die Vollautomatisierung der Intralogistik durch eine gemeinsame Steuerung von Maschinen und Flurförderfahrzeugen sind Beispiele dafür.

Die Szenarien als Visionen

Der Einsatz cyber-phsischer Produktionssysteme soll aber nicht nur veranschaulicht werden. Die Szenarien sollen gleichzeitig positive Bilder der Zukunft zeigen, die das wesentliche Ziel der Plattform unterstützen: "die internationale Spitzenposition Deutschlands in der produzierenden Industrie zu sichern und auszubauen." (Platt­form Industrie 4.0) Etwas konkreter geht es darum, "mit welchen Innovationen in Technologie, Arbeitsorganisation, Recht und Gesellschaft die deutsche Industrie in diese digitale Zukunft gehen will" (BMWi/PI40 2016, S. 3) und welche Heraus­forderung und Fragestellungen sich diesbezüglich ergeben.

Die Szenarien als Use Cases

Die Szenarien dienen daher zusätzlich als "Use Cases", als Grundlage für das Sam­meln von Anforderungen an das "RAMI – Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0" und zur Erfassung von Regelungs- oder Forschungsbedarfen in allen Bereichen, u.a.:

  • Technik, von der eindeutigen (automatischen) Identifikation der "Dinge" über Funktechnologien bis hin zu Datenbanken zur Echtzeitverarbeitung von „big data" oder der Integration von ERP und MES-Systemen;
  • IT-Sicherheit;
  • Rechtliche Belange, von der Vertragsgestaltung bis zum Datenschutz;
  • Arbeitsgestaltung und -organisation sowie Qualifizierung, Kompetenz- und Personalentwicklung;
  • usw.

Technische Möglichkeiten, wirtschaftliche Entwicklungen und politische Erwartungen?

Der Versuch, sich Realisierungen der Szenarien in der Zukunft – und sei es erst in 15 bis 20 Jahren – konkret und im Detail vorzustellen (vgl. Rogalla 2017), führt zu­nächst zu der Erkenntnis, dass zwischen den bekannten technischen Möglichkeiten des IoT sowie dem Einsatz cyber-physischer Systeme einerseits und den unterneh­merischen wie politischen Erwartungen an "Industrie 4.0" andererseits mehrere Stu­fen von Abstraktion und Verallgemeinerung liegen. Angesichts der von der Plattform und ihrer Akteure verfolgten Ziele ist dies kein Wunder. Gerade deswegen stellt sich aber auch die Frage, wie wahrscheinlich eine Realisierung dieser und anderer, ver­gleichbarer Szenarien sein wird.

Schon die technische Umsetzbarkeit des Szenarios "Auftragsgesteuerte Produktion", um nur ein Beispiel zu nennen, erscheint fraglich: Angestrebt werden mit dem Szena­rio vollautomatisch ablaufende, vernetzte Prozessketten in Produktion und Fertigung über mehrere, wechselnde Betriebe und Unternehmen hinweg. Dies erinnert nicht nur fatal an Fehlschläge in CIM-Zeiten. Auch andere Erfahrungen aus der Implemen­tierung umfassender IT-Lösungen (z.B. ERP-Systeme) zeigen, dass zwischen Stan­dardisierung (von Prozessen) und Individualisierung (von Produkten) ein wenn nicht unaufhebbarer, so doch nur mit sehr hohen Aufwänden vermeidbarer Widerspruch besteht. Alle Herausforderungen, die sich durch sicherheitstechnische und rechtliche Fragestellungen ergeben sowie der gesamte Bereich der Arbeitsgestaltung und -organisation sowie Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Literatur und Quellen

  • BITKOM, VDMA, ZVEI (Hrsg.) (2015): Umsetzungsstrategie Industrie 4.0. Ergebnisbericht der Plattform Industrie 4.0. Berlin: BITKOM.
  • Bundesministerium für Wirtschaft und Energie/Plattform Industrie 4.0 (Hrsg.): Aspekte der Forschungsroadmap in den Anwendungsszenarien. Ergebnispapier. Berlin: BMWi, 2016.
  • Plattform Industrie 4.0
  • Promotorengruppe Kommunikation (2013): Deutschlands Zukunft als Standort sichern. Umsetzungsempfehlungen für das Zukunkftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0. Berlin: Forschungsunion Wirtschaft - Wissenschaft.
  • Rogalla, I. (2017):  Arbeitsprozesse der Zukunft: "Industrie 4.0"-Szenarien konkret. Berlin: R&W-Verlag (in Vorbereitung).
  • VDI/VDE (2015): Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0, (RAMI4.0). VDI/VDE, April 2015.
  • Wissenschaftlicher Beirat der Plattform Industrie 4.0 (Hrsg.) (2014): Industrie 4.0 – Whitepaper FuE-Themen.

 

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