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Wie HMI-Lösungen kulturell angepasst werden können

Autor: Dr.-Ing. Peter Rössger, Founder, beyond HMI

Beitrag - Embedded Software Engineering Kongress 2015

 

Im Rahmen dieses Papers werden die interkulturellen Unterschiede bei der Wahrnehmung und Beurteilung von Mensch-Maschine-Schnittstellen (Human Machine Interfaces, HMIs) diskutiert. Kulturelle Prägung trägt viel zu den Erwartungen der Nutzer an ein technologisches Artefakt bei (Rößger & Rosendahl, 2002; Heimgärtner, 2010). Herangehensweise, Lösungsstrategien, Informationsverarbeitung und die Verbindung von Farben, Symbolen und Icons unterscheidet sich deutlich zwischen Kulturen (Marcus et al., 2003; Honold, 2000). Rößger (2014) diskutiert das Thema anhand von Infotainmentsystemen in Fahrzeugen.

Definition Kultur

Frühe Definitionen beschreiben Kultur als  komplexes Ganzes, dass unter anderem Wissen, Glauben, moralische Werte, Künste, Gesetze und Gebräuche umfasst (Scupin, 2011). Das ist eine Definition im Sinne von Hochkultur. Sie wurde in Unterscheidung zu sogenannten kulturlosen Wilden eingeführt und genutzt.

Später wird Kultur als identitätsstiftend für Gruppen und Gruppenprozesse definiert (Hall, 1976). Heute ist Kultur die kollektive mentale Programmierung von Menschen, die zu einer Gruppe gehören. Im Unterschied zu früheren Definitionen von Kultur betrifft das hier auch alltägliche Gegenstände, Handlungen oder Werte und nicht nur die traditionelle Hochkultur. Kultur gilt als erlernt und nicht als genetisch determiniert (Hofstede & Hofstede, 2009).

In der Betrachtung des Menschen als kulturelles Wesen ist die Basis einer gedachten Pyramide die menschliche Natur, ein Satz aus genetisch determinierten Parametern, der für alle Menschen gleich ist. An der Spitze der Pyramide befindet sich die individuelle Persönlichkeit, die jeden einzelnen von allen anderen unterscheidet. In der mittleren Schicht befinden sich die erlernten kulturellen Werte. Diese gelten für Gruppen von Menschen (Abbildung 1, siehe PDF).

Kern der Definitionen ist immer eine Gemeinsamkeit an Werten, Handlungen, Ansichten, die eine Gruppe von einer anderen unterscheidet. Ohne die Unterscheidung zu anderen Kulturen, ohne Differenzierung ist keine eigene Kultur denkbar.

Kultur wird stark durch geografische Unterschiede determiniert. Es kann aber auch innerhalb einer Region kulturelle Unterschiede geben, z.B. bestimmt durch Hobbys, Vorlieben (z.B. Fankultur) oder Bildungsstand (z.B. Arbeiterkultur). In diesem Text wird die geografische Kulturdefinition genutzt. Europäisch in Vergleich zu asiatisch, im Vergleich zu amerikanisch.

Aussagen über Kultur beschreiben nie die Realität (Hofstede & Hofstede, 2009). Es handelt sich immer um Stereotype, die durch die Betrachtung von Gruppen entstehen. Das hilft zu einer vereinfachten Wahrnehmung und Handlung, berücksichtigt aber nie den Einzelnen.

Beispiele interkultureller Unterschiede: Schriften und Zeichensätze

Kulturen werden durch die benutzte Sprache determiniert und repräsentiert (Gardt, 2001). Je nach Sprache werden für die schriftliche Niederlegung von Worten unterschiedliche Zeichensätze verwendet. Die meisten europäischen Sprachen nutzen den lateinischen Zeichensatz, wobei je nach Sprache Sonderzeichen wie die deutschen Umlaute hinzukommen können. Hier ist bei der Implementierung von HMIs darauf zu achten, dass die verwendeten Zeichensätze die Darstellung der entsprechenden Buchstaben ermöglicht.

Innerhalb von Europa verwenden einige Sprachen kyrillische Buchstaben; Griechisch und Georgisch haben eigene Zeichensätze. Im asiatischen Raum sind weitere in Benutzung, die im Gegensatz zu europäischen Buchstaben komplexere Inhalte wie z.B. Silben haben. Erschwerend kommt hinzu, dass z.B. in China ca. 20.000 Zeichen genutzt werden (Karlgren, 2008). In verschiedenen Sprachen haben Wörter unterschiedliche Längen. Englisch ist eine eher effiziente und kurze Sprache; Deutsch und Französisch verwenden in den meisten Fällen mehr Buchstaben. Im Finnischen gibt es extrem lange Wörter. Die asiatischen Schriften erlauben die Darstellung von viel Inhalt mit sehr wenigen Zeichen. Bei der HMI-Gestaltung muss das bei der Feldgröße für Wörter berücksichtigt werden.

Beispiele interkultureller Unterschiede: Farben und Symbole

Neben der rein ästhetischen Wirkung sind Farben Träger von Informationen. Grün kennzeichnet oft den Zustand "gut", "ok" oder "unkritisch", rot bedeutet das Gegenteil. Auch weitergehende Konnotationen zwischen Farben und Bedeutungen sind bekannt, wie z.B. weiß für Unschuld oder Reinheit und schwarz für Trauer oder Eleganz. Diese Zuordnungen sind kulturell determiniert und nicht in allen Kulturkreisen identisch. So ist in Asien rot nicht zwangsläufig mit kritischen Zuständen verbunden, und in einigen Teilen Chinas ist weiß die Farbe der Trauer (Tabelle 1).

 

 

Schwarz

Weiß

Rot

Gelb

Grün

USA

Autorität

Tod/Trauer

Unendlichkeit

Sünde

Stil

Himmel

Luxus

Hochzeit

Reinheit

Wahrheit

Gefahr

Ärger

Mut

Aufregung

Hitze

Liebe/Erotik

Leidenschaft

Feigheit

Energie

Spaß

Freude

Frieden

Vertreibung des Bösen

Glück

Wachstum

Neid

Natur

Sicherheit

Deutschland

Tod/Trauer

Stil

Luxus

Design

Reinheit

Sauberkeit

Hochzeit

Unschuld

Tugend

Gefahr

Ärger

Hitze

Liebe/Erotik

Geschwin-digkeit

Neid

Lüge

Falschheit

Sonne

Sommer

Freude

Bio/Natur

Neid

Umwelt

China

Freude

Party

Macht

Geld

Nachdenken

Reinheit

Wahrheit

Tod/Trauer

Hochzeit

Fruchtbarkeit

Glück

Erfolg

Fröhlichkeit

Gesundheit

Ruhe

Kraft

Geld

Respekt

Königreich

Wachstum

Leben

Vertreibung des Bösen

Indien (Hindi)

Sünde

Wut

Geld

Wahrheit

Tod/Trauer

Intelligenz

Frieden

Erotik

Hitze

Leidenschaft

Hochzeit

Energie

Gott

Krankheit

Persönliche Energie

Vertreibung des Bösen

Leben

Sympathie

Das Böse

Aufmerksamkeit

Religion

Liebe


Tabelle 1: Die Bedeutung von Farben in ausgewählten Kulturkreisen (Russo & Boor, 1993; McCandless, 2010)

 

Die unterschiedliche Konnotation von Farben in den Kulturen hat Konsequenzen für die Gestaltung von HMIs. Unterschiedliche Farben tragen unterschiedliche Bedeutungen. Es kann zu Missinterpretationen z.B. bei der Anzeige kritischer Zustände kommen. Der Einsatz von Farben kann zu Emotionen führen, die nicht in den entsprechenden Kontext passen.

Auch bei der Verwendung von Symbolen (Icons) in HMIs kann es zu Missverständnissen kommen. Icons sind oft vereinfachte Darstellungen realer Objekte. Die Vereinfachung als solche schafft Raum für (Miss-) Interpretationen. Die Auswahl der Objekte, die als Basis dienen, kann unpassend sein. Besondere Irritationen kann die Wahl von Gesten als Basis für Icons erzeugen. Gesten haben eine sehr stark kulturell geprägte Bedeutung (Ege, 2013; Broschinsky-Schwabe, 2011). Auch politische Symbole wie Sterne oder Kreuze sind international unterschiedlich belegt. So steht das Hakenkreuz in Europa für das ganz rechte politische Spektrum; in Indien ist die fast identische aussehende Swastika ein Glückssymbol.

Die politisch-religiöse Dimension

Die Missachtung interkultureller Phänomene hat auch eine politische und religiöse Komponente (Goldschmidt, 2009). Spannungen zwischen Ländern können z.B. die Darstellung von Navigationskarten beeinflussen. So sollten Fahrzeuge, die nach China gehen, Taiwan als Provinz Chinas darstellen, in Taiwan dagegen als eigenständiges Land. Entsprechendes gilt für das Westjordanland und den Gazastreifen in Israel bzw. arabischen Ländern.

In arabischen Ländern sind Grün und Lila religiös konnotierte Farben; sie sollten bei der Gestaltung von HMIs nicht verwendet werden. Aufgrund des Alkoholverbots in vielen islamischen Ländern ist bei der Nutzung von Icons auf die Darstellung alkoholischer Getränke zu verzichten. Das gilt auch für die Darstellung von menschlichen Gliedmaßen (Goldschmidt, 2009).

Globalisierung, Internationalisierung, Lokalisierung

Lokalisierung eines HMI heißt, dass mehrere HMI-Varianten erstellt werden, die sich an lokale kulturelle Gewohnheiten anpassen. Internationalisierung bedeutet, dass ein HMI für viele Kulturen angepasst oder eine Basis gelegt wird, die das erlaubt. Globalisierung ist die Schaffung eines HMI, das global funktioniert (Abbildung 2, siehe PDF) (Goldschmidt, 2009; Sikes, 2009).

Die Entscheidung, ob man bei einem international angebotenen System eine HMI-Lösung für mehrere Märkte versucht (Internationalisierung) oder ob man lokalisiert, sollte sehr früh im Entwicklungsprozess fallen. Spätere Änderungen der Strategie sind teuer und führen zu nicht optimalen Ergebnissen. Eine echte Globalisierung, d.h. ein HMI für die gesamt Welt, bietet sich nur für sehr einfache Systeme an.

Der 3-Layer Approach

Es werden in der Literatur (Goldschmidt, 2009) fünf Hauptaspekte gesehen die bei der Lokalisierung von HMIs und Produkten berücksichtigt werden müssen:

  1. Technische Probleme
  2. Sprachliche Probleme
  3. Kulturelle Probleme
  4. Politische Probleme
  5. Ästhetische Probleme


Goldschmidt (2009) macht den Vorschlag, die fünf Hauptaspekte der Lokalisierung in einem 3-Ebenen-Ansatz (3-Layer Approach) anzugehen (Abbildung 3, siehe PDF)

Es müssen in Layer 1 die technischen Grundlagen gelegt werden, um eine Lokalisierung durchzuführen. Dazu müssen die passenden Tools und Prozesse ausgewählt und die Datenformate für die Lokalisierung passend definiert werden. In Layer 2 werden die "harten" Lokalisierungen durchgeführt, wie z.B. richtige Datenformate, Einheiten oder Schriften. In Layer 3 erfolgt die kulturelle und ästhetische Anpassung des HMIs. Das betrifft z.B. Geschmäcker, Technologieaffinität und Gewohnheiten der Nutzer.

Zusammenfassung

Kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung und Nutzung von Technologie müssen durch entsprechende Gestaltung der HMI berücksichtigt werden. Schriften, Farben, Datenformate und die Bedeutung von Icons unterscheiden sich zwischen den Kulturen. Früh in der HMI-Entwicklung sollte entschieden werden, ob internationalisiert wird, also ein HMI für viele Kulturen entwickelt wird, oder der Weg der Lokalisierung, ein HMI für jede Kultur, gegangen wird. Der 3-Layer Approach von Goldschmidt hilft bei der Lokalisierung von HMI-Lösungen.

Literatur

Broschinzky-Schwabe, E. (2011). Interkulturelle Kommunikation: Missverständnisse – Verständigung. VS Verlag.

Ege, A. (2013). Die 10 gängigsten Gesten und ihre internationale Bedeutung. Internet (19.08.2013) .

Gardt, A. (2001). Beeinflusst die Sprache unser Denken? Ein Überblick über Positionen der Sprachtheorie. In: Andrea Lehr et al. (Hg.): Sprache im Alltag. Beiträge zur neuen Perspektiven der Linguistik. Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag gewidmet. Berlin/New York: De Gruyter

Goldschmidt, D. (2009). Workshop Arabic HMI. Internal Presentation.

Hall, E.T. (1976). Beyond Culture. Anchor Books.

Heimgärtner, R. (2010). Towards a Model of Culturally Influenced Human Machine Interaction. IWIPS 2010, Proceedings.

Hofstede, G., Hofstede, G.J. (2009). Lokales Denken, globales Handeln. dtv Verlag.

Honold, Pia (2000): Culture and Context: An Empirical Study for the Development of a Framework for the Elicitation of Cultural Influence in Product Usage. In: International Journal of Human Computer Interaction, 12 (3) pp. 327-345.

Karlgren, B. (2008). Schrift und Sprache der Chinesen. Springer.

Marcus, A, Baumgartner, V.J. & Chen, E. (2003). User-Interface Design vs. Culture. Evers et al (Hrsg.): Designing for Global Markets 5, Proceedings of the 5th International Workshop on Internationalization of Products and Systems.

McCandless, D. (2010). Das Bilderbuch des nützlichen und unnützen Wissens. Knaus.

Roessger, P. and Rosendahl, I. (2002). Intercultural Differences in the Interaction Between Drivers and Driver-Information-Systems, SAE Technical Paper 2002-01-0087.

Rößger, P. (2012). Designing for World Markets: HMI and Cross Cultural Usability. Präsentation auf der Konferenz Automotive Cockpit HMI, 26.9.12, Bonn.

Rößger, P. (2014). Interkuturelle HMI Lösungen: Internationalisierung vs. Globalisierung. ATZ Elektronik, Februar 2014, S. 56ff.

Russo, P. & Boor, S. (1993). How fluent is your Interface? Designing for International Users. Proceedings of the 1993 International Conference ACM CHI. S 342ff.

Scupin, R. (2011). Cultural Anthropology: A Global Perspective. Prentice Hall.

Wikipedia (Abfrage 1410.15). Datumsformat.

Sikes, R. (2009). Localization: The Global Pyramid Capstone. MultiLingual Magazine, April 2009.

 

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